„Wechselstrom“ oder die Verwirrungen der Filmstudentin Frédérique

„Eine Persönlichkeit ist der Ausgangs- und Fluchtpunkt alles dessen, was gesagt wird, und dessen, wie es gesagt wird.“  (Robert Musil)

wechselstrom20180204_113442
Foto: Privat

In der Liebe sich selbst erkennen – diese Standardformel ist mitnichten ein romantischer Mythos, sondern vielmehr ein altes Leitmotiv der Literatur. Zwischen Verklärung und Ernüchterung lauern Abgründe, die den Blick des oder der Liebenden zurückwerfen auf die eigene Persönlichkeit. (Post-) Moderne Beziehungen – ob Affäre oder langjährige Partnerschaft, ob homo- oder heterosexuell – werden immer auch als Ausdruck des Ich wahrgenommen. Hier entfaltet sich die Eigentümlichkeit eines Charakters, hier zeigen sich seine Schwächen in all ihrer Hässlichkeit und seine Vorzüge in voller Blüte. Was wäre der Entwicklungsroman ohne die Liebe? Einen solchen hat Cécile Vargaftig vor über 20 Jahren veröffentlicht: „Wechselstrom“, in der französischen Originalausgabe schlicht „Frédérique“ betitelt. Eine Rückschau der damals 30-jährigen Filmemacherin auf ihre Studienzeit in Paris, auf intellektuelle Gedankenspiele, auf Männer und Frauen, die sie begehrte und wieder verlor und nicht zuletzt auf sich selbst.

Selbsthass und Begehren

Lustlos studiert die 23-jährige Ich-Erzählerin Frédérique an einer Filmhochschule, lustvoll liebt sie – die lesbische Lola, Jean Christophe mit den schwarzen Augen, ihren Kumpel Le Chat und, für eine Nacht, die Hausbesetzerin Carole. In der Pariser Boheme der 1980er-Jahre, auf den Vernissagen und den zahllosen Privatpartys trifft sie auf Menschen wie sie selbst, Studenten, die nach künstlerischem Ausdruck suchen und mit einer großen Verachtung auf die Liebe und die Kunst blicken – „abgefuckte Intellektuelle“, wie Frédérique sie nennt. Ihre Gefühlswelt ist ein Dschungel, in dem man sich verirrt, dem man gelegentlich entfliehen muss, auf die Lichtungen vergangener Katastrophen. Zwischen Selbsthass und Leidenschaft, zwischen Begehren und Verlust stolpert sie durch die Liebe, um am Ende sich selbst gelassener begegnen zu können.

Coming of Age

Vom selbsternannten „Kind der Nacht“ mit No Future-Attitüde zur abgeklärten Studentin ist es ein weiter Weg, gepflastert mit Skurrilitäten und vielen Zitaten aus der zeitgenössischen Kunst und Pop-Musik. Das Kino wird zur großen Projektionsfläche des Lebens, zu einem Leitmotiv des Buches. Hier zeigt sich auch die Ambition der Autorin, mehr als nur ein Panorama ihrer Jugend zeichnen zu wollen – „Wechselstrom“ sollte ein großer popliterarischer Entwurf werden. So bezeichnet die Protagonistin des Romans ihr Tagebuch, auf das immer wieder Bezug genommen wird, als authentisches „Zeitzeugnis unserer Gegenwartskultur“, als ein “Logbuch“ der westlichen Zivilisation der 1980er-Jahre. Vargaftig stellt förmlich ihre Bildung aus und überfrachtet den Text, der doch eigentlich (nur) die Nacherzählung einer Übergangsperiode zu sein behauptet. Zwar gelingen ihr immer wieder tiefgründige und gelegentlich auch humorvolle Passagen, jedoch irritiert die Diskrepanz zwischen klassischen Erzählstrukturen (Aufteilung der Großkapitel in Gesänge, weitgehende Chronologie), moderner Erzählweise (innerer Monolog) und der Flut von Zitaten. Letztlich ist der Text, auch unter Berücksichtigung seines Entstehungszeitraums, eine recht konventionelle „Coming of age“-Geschichte, die tief im französischen Intellektuellenmilieu verwurzelt ist.

„Wechselstrom“ wurde von Nadine Miller übersetzt.