„Ein Mensch wird“ oder: Aufbruch in die Einsamkeit

„Ich bin eine angefangene Sache, die nicht fertig wird, nie.“ (Hedwig Dohm)

Freiheit – das bedeutet auch, seine Potenziale auszuschöpfen und neue Wege zu gehen. Die Schriftstellerin Alma M. Karlin folgte ihrer Neugier und bereiste von 1919 bis 1928 entlegene Weltgegenden und Metropolen auf allen fünf Kontinenten. In ihrer Autobiografie „Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden“ blickt sie auf ihre Kindheit und frühen Erwachsenenjahre zurück. Als sie dieses Buch im Jahr 1931 schrieb, hatte sie nicht nur eine beinahe zehnjährige, äußerst strapaziöse Weltreise überstanden, sondern sich bereits als erfolgreiche Autorin etabliert.

Düstere Jugend

Dabei war ihr Start ins Leben keineswegs einfach: Als körperbehindertes „Zusammenkratzerl“ alter Eltern schien ihre Laufbahn vorgezeichnet zu sein. Frauen aus der Provinz der Habsburgermonarchie war Bildung zwar erlaubt, das selbstbewusste Einfordern eines unabhängigen Lebenswegs galt jedoch als ein Skandal. „[…] das große Wort jener Tage war ‚Sittsamkeit‘ “, schreibt Karlin mit Verbitterung. Denn Opfer dieses Gesellschaftsmodells waren auch Frauen aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Als beispielsweise das ledige Hausmädchen Mimi, ihre Vertraute seit Kindertagen, nach einer Liebesnacht schwanger wurde, galt sie fortan als gefallenes Mädchen. Sie verlor ihre Arbeit in Karlins Elternhaus und, was noch schwerer wog, ihre Lebensfreude.

Mutter und Tochter

Der gnadenlose Blick der Öffentlichkeit ruhte aber nicht nur auf den Frauen der unteren Gesellschaftsschichten. Auch das Bildungsbürgertum, aus dem Karlin stammte, war von patriarchalen Kontrollzwängen durchsetzt. So war das Verhältnis zu ihrer Mutter, einer Lehrerin, von gegenseitigem Unverständnis bestimmt: Auf der einen Seite stand die auf Reputation bedachte Mutter, auf der anderen die freiheitsliebende und unkonventionelle Tochter mit ihrer unstillbaren Neugier auf fremde Länder, Sprachen und Menschen.

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Buchcover: Ein Mensch wird (Foto: Privat)

Ob weibliche Verwandte oder Freundinnen – die Gräben, die sich zwischen Frauen auftaten, legt sie in ihrem Buch rigoros offen. Vermeintliche Schwächen duldete Karlin weder bei sich selbst noch bei anderen. „[…] dem Schwachen ist sowieso nicht zu helfen. Solche Frauen müssen heiraten, weil sie einer Stütze bedürfen.“ Ganz entgegen dem selbsternannten Ziel ihres Buches, die „vielen Frauen der Welt“ zu inspirieren, entlarven solche Aussagen die gesellschaftliche Prägung der Autorin, von der sie sich auch durch ihren außergewöhnlichen Erfahrungsschatz letztlich nie ganz befreien konnte.

Liebe und Leid

Männern begegnete Karlin mit Skepsis und Misstrauen. Nach dem frühen Tod des Vaters und den ersten romantischen Jugendschwärmereien lernte sie die Liebe vor allem als zerstörerische Macht kennen, die Frauen „entehrt, gebrochen, vergessen am Wegrand des Seins“ zurückließ. Ein Schicksal, dem sie sich durch ihre Reisen und Auslandsaufenthalte zu entziehen wusste. Der Enge des mütterlichen Haushalts entfloh sie nach London, wo sie sich als Übersetzerin durchschlug und nebenbei noch Prüfungen in englischer, schwedischer, norwegischer, italienischer, russischer und dänischer Sprache mit Auszeichnung bestand. Gerade die Londoner Zeit beschreibt sie in ihren Erinnerungen als eine elementare Erfahrung. Zwar vertraute Karlin zunehmend ihrem Intellekt und gewann an Selbstbewusstsein, aber sie empfand ihre Einsamkeit in der ewig grauen Stadt als überwältigend groß. Angesichts des Kreises an kosmopolitischen Bekanntschaften und Freund*innen, von indischen Prinzen bis hin zu chinesischen Adeligen, bleibt den Leser*innen die wiederholt geäußerte Qual der totalen Einsamkeit rätselhaft. „[…] Entbehrungen, Entheimatung, Vereinsamung ohne Aussicht auf ein Besserwerden…“, so schildert sie ihr – wohlgemerkt selbstgewähltes – Leben in London. Auch ihre kriegsbedingten Aufenthalte in Norwegen und Schweden boten ihr letztendlich keinen Ausweg aus der Isolation.

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Streetart von NAFIR,                   Foto: Privat

Nicht einmal die Verlobung mit einem chinesischen Mann, einem ihrer Sprachschüler, änderte daran etwas, sie fand nach ein paar Monaten ein klangloses Ende. Desillusioniert bilanziert Karlin ihre Erfahrungen und bewertet die Trostlosigkeit ihres Liebeslebens als Quelle ihrer Kreativität neu. „[…] denn wer zum Gipfel will, der muß jede menschliche Bindung lösen… Jede Bindung ist eine Fessel, ein Gewicht, das den Schritt hemmt.“ In dieser Rückschau auf ihre Jugend spielt ihre spätere „Schwesternseele“ Thea Schreiber-Gammelin, mit der sie lange zusammenlebte und sich später sogar ein Grab teilte, keine Rolle: Ihre tiefempfundene Einsamkeit bleibt stets Leitmotiv des Buches.

Rassismus

Alma M. Karlins Autobiografie zeigt deutlich, dass Reisen und Kulturkontakte nicht zwingend zu mehr Toleranz führen. Trotz der pazifistischen Grundhaltung und ihrem Interesse an fremden Länder ist ihr Blick auf andere Kulturen von rassistischen Stereotypen beeinflusst. So bezeichnet die Autorin ihren ehemaligen Verlobten als „kleine[n] Gelbhäuter“ und ist entsetzt über das wachsende Misstrauen der „fremdfarbigen Völker“ nach dem 1. Weltkrieg, die die Europäer nun nicht mehr als „Halbgötter“ verehren würden. Karlins Fazit: „Der Untergang des Abendlandes.“ Nur ein „selbstloser Zusammenschluß aller Weißen [könne] Europa heute retten […].“

Dennoch wurde Karlin zu einer entschiedenen Gegnerin des Nationalsozialismus. Im Jahr 1941, also 10 Jahre nachdem sie „Ein Mensch wird“ niederschrieb, wurden ihre Werke verboten und sie selbst von der Gestapo verhaftet. 5 Jahre nach Kriegsende verstarb sie in ihrer Heimatstadt Celje, wo seit 2010 ein bronzenes Denkmal an sie erinnert. Als eine außergewöhnlich mutige Frau mit einer überragenden Begabung für Fremdsprachen bleibt Alma M. Karlin im Gedächtnis ihrer Leser*innen. Von ihrer Neugier getrieben stürzte sie sich in zahllose Abenteuer, ging viele Risiken ein und lebte offen mit einer Frau zusammen. Aber alle Brüche und Widersprüche ihrer Zeit reisten immer mit ihr um die Welt.