Tunnelblick: Zur Rezeption von Lotte Laserstein

Am Anfang aller kunsthistorischen Forschung steht die sinnliche Erfahrung seines Gegenstandes. Trotz der Objektivierungsverfahren der Wissenschaft spielen die eigenen sozialen Prägungen der Kunsthistoriker*innen bei der Interpretation von Kunstwerken eine wichtige Rolle.

So wurde die Kunst vieler Frauen lange nicht hinreichend ernst genommen, selten ausgestellt, weniger erforscht und billiger verkauft als die Werke ihrer männlichen Kollegen. „Frauen malen nicht so gut. Das ist ein Fakt“, behauptete der Maler Georg Baselitz 2013 gar in einem Interview mit dem SPIEGEL. Hochgelobt für ihre handwerklichen Fähigkeiten, bewundert für ihre einfühlsamen Menschenbilder, reiht sich Lotte Laserstein in die lange Liste von Künstlerinnen ein, die Baselitz` Vorurteil Lügen strafen. Nachdem ihr das Städel Museum in Frankfurt eine Sonderausstellung gewidmet hat, ergänzt nun die Berlinische Galerie diese Werkschau mit Porträts aus der eigenen Sammlung.

Berufswege

Lotte Laserstein begann ihre künstlerische Ausbildung unter besseren Verhältnissen als Generationen von weiblichen Kunstschaffenden vor ihr. Staatliche Kunstakademien bildeten Ende des 19. Jahrhunderts endlich Frauen aus und erlaubten ihnen später auch das Studium des nackten menschlichen Körpers. Trotz Lasersteins eher „akademischer“ Malweise, die sich vor allem dem naturalistischen Stil des 19. Jahrhunderts verpflichtet sah, war sie eine moderne Malerin. Ihre Modernität schöpfte sich nicht nur aus ihrem bevorzugten Sujet – Frauen jenseits traditioneller Rollenbilder – sondern auch ihrer geschickten Selbstvermarktung in der Weimarer Republik.

Neue Frauen?

Mit der politischen Partizipation der Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts veränderten sich auch die weiblichen Zuschreibungen. In der Werbung, der Literatur und der Kunst wurde die „Neue Frau“ zum Ideal erhoben: Sie war selbstbewusst, sportlich, aktiv.

Make-up und Bubikopf, Zigaretten und eine selbstbestimmte Sexualität bildeten die Versatzstücke einer Ikone, deren Strahlkraft auch heute noch sichtbar ist. In der Literatur wird oft betont, wie sehr sowohl Lotte Laserstein selbst als auch ihr Lieblingsmodell Traute Rose diesem Typus entsprachen. Jedoch greift diese Klassifizierung zu kurz. Denn die Androgynität, mit der Laserstein sich und vor allem Rose inszenierte, hat mit den Werbebildern der 1920er Jahre wenig gemein. Nicht die Ästhetik der zeitgenössischen Werbung, sondern vielmehr der künstlerische Diskurs um weibliche (Selbst-)Darstellung scheint für die Künstlerin hierbei bedeutsam gewesen zu sein.

Das Begehren im Blick?

Lasersteins Bilder von der Freundin Traute Rose sind zwar erotisch konnotiert, von einer rein sexuell motivierten Perspektive auf sie kann keine Rede sein. Allerdings unterstreichen zärtliche Gesten wie beispielsweise auf dem Bild „Ich und mein Modell“ aus dem Jahr 1929/30 die Intimität zwischen den beiden Frauen. Mit dem Lebensentwurf einer lesbischen Liebe war Laserstein durch die jahrzehntelange Beziehung ihrer Schwester Käthe zu Rose Ollendorf vertraut. Zu ihrem eigenen Liebesleben jedoch hat sich Laserstein Zeit ihres Lebens kaum geäußert.

Bei der Lektüre der Katalogtexte zur aktuellen Ausstellung irritiert daher die kategorische Ablehnung einer möglichen lesbischen Lesart. So schreibt die Kunsthistorikerin Kristin Schroeder in ihrem Artikel „Unsere Bilder. Freundschaft und weiblicher Akt“: „Es gibt keine biografischen Hinweise darauf, dass Laserstein und Rose ein Paar waren, und etwas derartiges zu behaupten, würde die facettenreiche Darstellung einer Nähe zwischen zwei Freundinnen, wie sie auf „ihren Bildern“ zu sehen sind, auf grobe Weise unterminieren.“ Auch Liebesbeziehungen, ja selbst kurze Affären, können bekanntlich „facettenreich“ sein und vielschichtige Emotionen hervorrufen. Wie ein lesbisches Begehren die Tiefe und Komplexität der Darstellung „auf grobe Weise“ sabotieren könnte, lässt Schroeder hingegen offen.

Grenzziehungen

Doch nicht nur bei den Bildnissen mit Traute Rose wird die Voreingenommenheit der an der Ausstellung beteiligten Kunsthistoriker*innen deutlich. Wie stark ihr Blick auf das soziale Geschlecht von Stereotypen geprägt ist, zeigt die Interpretation des Werkes „Am Motorrad“ exemplarisch auf.

Schon der Titel wirft Fragen auf: Entgegen den im Katalog publizierten zeitgenössischen Abbildungen des Werkes mit der obigen Betitelung wird es im Bildteil unter „Der Motorradfahrer“ geführt. In der Berliner Ausstellung hingegen greift man wieder auf den ursprünglichen – und offeneren – Titel „Am Motorrad“ zurück. Nicht die eher weichen Gesichtszüge, sondern vor allem die Körperhaltung, die Kleidung und das Ambiente der Werkstatt prägen die maskuline Wirkung der abgebildeten Person. „Breitbeinig und in voller Montur baut sich der junge Mann mit Lederjacke, Mütze und Schutzbrille vor seinem Gefährt auf.“, heißt es in der Bildbeschreibung im Katalog. Dabei unterscheidet sich seine Pose nur durch die Frontalität der Darstellung und der damit einhergehenden Perspektive von der breitbeinig stehenden weiblichen Figur des Bildes „Zwei Mädchen“. Erst auf Nachfrage der Journalistin Susann Kaiser erklärte eine der Kuratorinnen bei der Ausstellungseröffnung in der Berlinischen Galerie, dass ihres Wissens nach ein Cousin von Lotte Laserstein für diese Arbeit Modell gestanden hat. Einmal mehr wird deutlich, dass Varianzen bei der Ausprägung der gezeigten Gender-Rollen nur oberflächlich benannt, aber kaum analytisch erfasst werden. Zudem unterschlägt die Forschung zu Laserstein den die letzten Jahrzehnte umspannenden queertheoretischen Diskurs – eine kaum nachvollziehbare Restriktion der Mittel.

Von den Ängsten der Kuratorinnen

Auf dem Presserundgang durch die Ausstellung fragte eine Journalistin die Kuratorin Dr. Annelie Lütgens, ob die Künstlerin eine lesbische Beziehung mit ihrem Lieblingsmodel gehabt habe. Lütgens verneinte dies vehement, um gleich darauf zu betonen, dass man es eben nicht genau wisse. Jedoch ist die Verneinung eines lesbischen Begehrens genauso wenig wissenschaftlich fundiert wie die Annahme desselben. Sowohl die dokumentierten Schwärmereien für ihren Lehrer Erich Wolfsfeld wie auch die gezeigte Intimität zwischen Laserstein und Rose lassen, angesichts fehlender Selbstäußerungen der Künstlerin, keine Eindeutigkeit zu. Eine biografische Lücke, die es, in all ihrer Ambivalenz, zu benennen gilt.

Ganz ungewollt demonstrierten auch Lütgens Schlussworte bei ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung ihr Dilemma: „Was ich von Lotte Laserstein gelernt habe: Es gibt intime Freundinnenbilder jenseits der lesbischen Subkultur […].“

Auf den ersten Blick ist das eine denkbar banale Aussage, denn natürlich findet man in der Kunstgeschichte zahllose Paar- und Gruppenbildnisse von Frauen ohne erkennbaren erotischen Unterton. Beispielsweise stehen die intimen Freundinnen- und Schwesternporträts der klassizistischen Malerin Angelika Kauffmann keinesfalls unter dem „Generalverdacht“ verdeckter lesbischer Beziehungen. Weder in der kunsthistorischen Forschung noch in der Kunstberichterstattung kann von einer lesbischen Deutungshoheit über Freundinnenbildnisse von Künstlerinnen die Rede sein. Ebenso wenig akkurat ist die Formulierung „lesbische Subkultur“ zur Beschreibung des vielfältigen lesbischen, bisexuellen und queeren Lebens im 20. Jahrhundert. Denn auch jenseits lesbischer Subkultur (-en) gab und gibt es lesbische Liebe, lesbisches Begehren, lesbischen Sex.

In der übergroßen Angst vor einer lesbischen Vereinnahmung Lotte Lasersteins zeigt sich ein Phänomen, das der Blogger Johannes Kram in seinem Buch „Ich habe ja nichts gegen Schwule, aber…“ mit „neuer Homophobie“ umschreibt: Ein Selbstbild, das auf Toleranz und Liberalismus fußt, garantiert auch bei gebildeten Menschen nicht die Aufarbeitung internalisierter Abwehrmechanismen und heimlicher Ressentiments. Es ist an der Zeit, dass sich die Museen diesen Diskursen stellen. Denn ohne ein Bewusstsein für die eigenen gesellschaftlichen Prägungen ist eine vorurteilsfreie Deutung von Kunstwerken kaum möglich.