Gastbeitrag: Ongoing – Ruth und Lotte Jacobi

foto ruth und lotte jacobi
Street Art von CTO, Foto: Privat

Eine kleine Auswahl von Fotografien der Schwestern Lotte und Ruth Jacobi ist gerade im Erdgeschoss des Willy-Brandt-Hauses nicht nur zu sehen, sondern auch sehenswert. Gezeigt werden fotografische Arbeiten überwiegend aus Berlin und New York der 1920er und 30er Jahre. Die übersichtliche Zahl der Bilder erlaubt eine ausführliche Betrachtung. Hintergrundinformationen zu den Biografien, besonders die Beeinflussung der Lebenswege durch politische Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland, fehlen allerdings in der Ausstellung. Vielleicht sind die Kuratierenden davon ausgegangen, dass Besuchende die deutsche Geschichte zur Genüge kennen. Ich jedenfalls muss immer wieder nachsehen, wann genau was stattfand.

Vom Leben in der Emigration

Einzig bei Lotte ist zu lesen, dass sie „als Jüdin“ 1935 in die USA emigrierte. Treffender ist, dass die erklärte Atheistin wegen ihrer jüdischen Herkunft politisch verfolgt wurde. In der Biografie von Ruth ist, ohne Hinweis auf politische Entwicklungen wie den Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte, Berufsverbote und Besitzeinschränkungen, nur zu lesen, dass sie sich nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 von ihrem ersten Mann Hans Richter scheiden ließ. Und auch, dass sie nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 mit ihrem zweiten Mann, dem ungarischen Arzt Maurus Roht in die USA emigrierte – als wären diese Entwicklungen rein privat motiviert. Ebenso bleibt der Rückzug Ruth Jacobis aus der Fotokunst und die Arbeit in der Praxis ihres Mannes ohne einen Hinweis auf ihre wirtschaftliche Situation. Nur ein Brief von Ruth an Lotte lässt erahnen, wie der Neubeginn des Ateliers Jacobi im New York inmitten der Weltwirtschaftskrise ausgesehen haben mag: Als Fotografin auf dem Geburtstag von Marlene Dietrichs Tochter Maria Riva habe sie sich „endlich mal wieder satt essen“ können.

Späte Anerkennung

Als Ruth Jacobi sieben Jahre zuvor New York besuchte und das jüdische Leben in der Upper
Eastside 1928 dokumentierte, herrschte in der Stadt noch Hochkonjunktur. Zurück in Deutschland arbeitete sie mit ihrer berühmteren und in der Berliner Kulturszene etablierten Schwester zusammen im Familienstudio in der Joachimstaler Strasse, ab 1933 dann am Kurfürstendamm. Als sie 1935 emigrierten, war Lotte 39 Jahre und Ruth 36 Jahre alt. Keine der beiden konnte in den USA an den wirtschaftlichen Erfolg und die künstlerische Anerkennung der Berliner Jahre anknüpfen – und keine kehrt zurück. Lotte Jacobi begann zu experimentieren und stellte Ende der fünfziger Jahre Fotogramme in den USA aus. Als sie 1973 durch eine Retrospektive im Folkwang Museum Essen ins deutsche Bewusstsein zurückkehrte, war sie bereits 77 Jahre alt. Fotografien von Ruth Jacobi wurden erstmals nach ihrem Tod ausgestellt, im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie 2008/09 im Jüdischen Museum Berlin.

Alles in Bewegung

Das Titelfoto des einzigen Fotobandes zu Ruth Jacobi ist auch im Willy-Brandt-Haus zu sehen: Ein flüchtiger Blick auf eine elegante New Yorkerin, die im Gleichschritt mit ihrer am Halsband geführten Gans durch die Innenstadt läuft. Die komische Dynamik der Szene lebt auch von der Beiläufigkeit der Aufnahme. Die Kamera bewegt sich mit dem Motiv. Alles ist in Bewegung, nichts ist absolut scharf, nicht einmal die Autos am Straßenrand. Niemand posiert, niemand steht im Mittelpunkt. Dabei begann die große Blütezeit der Street Photography erst ein paar Jahre später in den 1930ern. Dieses 1928 gemachte Bild gehört also zu den absoluten Pionierarbeiten des Genres, wie auch die anderen New Yorker Fotos von Ruth Jacobi und ihre 1927 in London gemachten Aufnahmen. Seit der Londoner Zeit arbeitete sie auf Reisen mit einer Leica 1, der ersten in Serie produzierten Kleinbildkamera.

Der emanzipierte Blick

Die Zeit der allzu festen Grundsätze und Denkmäler schien vorbei. Die Fotografin hielt nicht fest, sondern berichtete, der Auslöser stoppte die Schwingung nicht. Die unaufgeregte, nicht anhaltende Bewegung von Motiv und Kamera war und ist Ausdruck des Städtischen an sich: Frau lebt, wie sie will – ohne langatmige Inszenierungen. Diese in den 20er Jahren begonnene Bewegung wurde in den nächsten drei Jahrzehnten nicht nur im Schaffen der Jacobi-Schwestern ausgebremst. Gestoppt werden konnte sie bis heute nicht. We are going on.


Von Polly Fannlaf

photo art + feminist pleasure

www.polly-fannlaf.art

Lotte Jacobi 1896-1990 & Ruth Jacobi 1899-1995
WILLY-BRANDT-HAUS, Stresemannstr. 28, 10963 Berlin
Ausstellung vom 26. September bis 10. Januar 2021