„Freiheit ist ein Gut, das durch Gebrauch wächst, durch Nichtgebrauch dahinschwindet.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker)
Das Coming out – eine wichtige Etappe im Leben von Homosexuellen. Auch heute noch erfordert es Mut, sich öffentlich zu seinen Gefühlen, zu seinem Begehren zu bekennen. Über diese von Ängsten und Unsicherheiten geprägte Phase wurden bereits unzählige Filme und zahlreiche Bücher veröffentlicht. Mangelnde rechtliche Gleichstellung z.B. beim Adoptionsrecht beeinflusst nach wie vor das Zusammenleben homosexueller Paare – und nicht nur das: Diese Liebesbeziehungen sind damit offiziell als ungleichwertig diffamiert.
Wie aber liebte man in einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur strafrechtlich verfolgt, sondern auch weitgehend sozial geächtet wurde? Eine Antwort darauf findet man in den Texten von Autorinnen, die heute als Klassiker der lesbischen Literatur gelten. Annemarie Schwarzenbach war eine von ihnen: attraktiv, mondän, aus wohlhabendem Schweizer Elternhaus. Nach einem Auslandssemester in Paris und einer ersten Publikation arbeitete sie ab 1929 an einem Manuskript, das erst viele Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod rekonstruiert und publiziert wurde.
Lieben und leiden
Es beginnt und endet im Aufzug eines Luxushotels. Die Blicke zweier Frauen begegnen sich, fragend, „auf der Schwelle des Fremden“. Heute als „Gaydar“ trivialisiert, löst dieser Moment des gegenseitigen Erkennens in einer jungen Winterurlauberin, der Protagonistin der Erzählung, eine Kaskade höchst widersprüchlicher Empfindungen aus. Sie verliebt sich – hoffnungsvoll und zweifelnd zugleich. Zwischen Selbsterkenntnis und Entgrenzung, zwischen Angst und Mut schwanken ihre Gefühle und bringen sie doch näher zu sich selbst. Der Angebeteten Ena Bernstein – dunkel, herb, mit „männlich klaren“ Gesichtszügen – nahe zu kommen, ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Damalige Moralvorstellungen ließen selbst im großbürgerlichen Milieu nur minimale Abweichungen zu. Mit der Angst, bloßgestellt und verleumdet zu werden, ging die Heimlichkeit einher. So wächst die Sehnsucht der Ich-Erzählerin im Verborgenen weiter, das erzwungene Schweigen vergrößert sie ins Maßlose. An eine Erfüllung im heutigen Sinn – einer offen gelebten Liebesbeziehung – ist nicht zu denken.
In der Charakterzeichnung der namenlosen Ich-Erzählerin finden sich zahlreiche Verweise auf die Biografie der Autorin – ihre Jugend, ihre Herkunft, ihr „knabenhaftes“ Äußeres, ihr Bildungsweg. Am deutlichsten wird die Verwandtschaft von Schwarzenbach und ihrer Figur in der Liebe zur schneebedeckten Bergwelt rund um die Gemeinde St. Moritz, in der Erzählung schlicht „M.“ genannt. „Engadin ist mein ureigenster Boden.“, schrieb Schwarzenbach 1932 in einem Brief an Erika Mann. Mal Kontrastmittel, mal Katalysator der Emotionen, immer ist in dem Text die Landschaft ein Widerschein ihrer Liebe.
Dokument der Sehnsucht
„Eine Frau zu sehen“ porträtiert die Innenschau einer jungen Lesbe gegen Ende der 1920er-Jahre. Doch mitunter ist dieser Reigen der Gefühlsaufwallungen mühsam zu lesen. Die unablässige Selbstbeschau und der Mangel an äußerer Handlung stehen den heutigen Lesegewohnheiten entgegen. Und auch die bisweilen altmodische Sprache erschwert den Zugang zum detailreich geschilderten Innenleben der Hauptfigur. So bleibt ihre Leidenschaft ein fernes Raunen aus einer Zeit, in der Homosexualität auch die Grenzen des Sagbaren sprengte.
In dieser Erzählung werden, im Unterschied zu anderen Arbeiten Schwarzenbachs, weibliche Homosexualität und die damit verbundenen emotionalen und sozialen Konflikte unverblümt zum Thema gemacht. Allerdings blieb sie bis 2008 unveröffentlicht. Mit der progressiven Macht einer Radclyffe Hall und ihrem Roman „Quell der Einsamkeit“, ein explizit lesbischer Stoff und unter ihrem eigenen Namen 1928 erschienen, ist dieser kleine Text daher nicht in eine Reihe zu stellen. Dennoch ist er mehr als nur eine zeithistorische Randnotiz queerer Literatur. „Eine Frau zu sehen“ dokumentiert die Sehnsucht von lesbischen Frauen in den Zeiten der Angst.