„A powerful performance will transform everyone in the room.“ (Marina Abramovic)
Wer würde nicht gerne für einen Tag jemand anderes sein? Eine kurze Zeit lang in einer fremden Haut stecken, einmal das Geschlecht wechseln? Das Spiel mit den Geschlechterstereotypen prägt unsere Community und geht weit über die Dragshow als Unterhaltungsformat hinaus. „Ich spreche nicht über Drag oder Crossdressing, sondern ich will die Binarität der Geschlechter herausfordern.“, erklärte die 2017 verstorbene Künstlerin und Aktivistin Diane Torr in einem TED-Talk. Ob als Dragking-Ikone Danny King oder als Go-Go-Tänzerin, ihre Performances karikierten stets gängige Schemata von Männlichkeit und Weiblichkeit. Torrs sehr erfolgreicher Workshop „Man for a Day“, zu dem es auch eine Variante für Männer gab („Woman for a Day“), führte sie um die Welt und brachte sie mit Frauen ganz unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation und Geschichte zusammen. 2012 wurde sie von der Regisseurin Katarina Peters bei einem dieser Workshops in Berlin begleitet – der Film „Man for a Day“ ist nicht nur ein Porträt der Künstlerin Diane Torr, sondern auch eine soziologische Studie über die Macht von Stereotypen.
Herausforderungen
Die Verhaltensmuster seien so starr und archaisch, dass man sie nicht durchbrechen könne, behauptet eine der Teilnehmerinnen zu Beginn des Films, um später sich selbst und anderen das Gegenteil zu beweisen. Diane Torrs Workshop ist nämlich mehr als nur ein Umstyling: Ziel ist es, einen Mann so authentisch zu verkörpern, dass im öffentlichen Raum keine Irritation entsteht. Grundlage für die Verwandlung schaffen die vorab stattfindenden Meditationen, Stimmübungen, die Kleiderauswahl inklusive Brustabbinden und Packer, und vor allem eines: Detektivarbeit.
Dafür suchen sich die Frauen zunächst auf der Straße Männer aus, die sie später in Gestik und Mimik imitieren wollen. Diese Episode ist sicher eine der spannendsten des ganzen Films, denn hier verkehren sich die Geschlechterrollen ins Gegenteil. Die Frau wird zur Beobachterin, der Mann zum Objekt ihrer Neugier. Ganz ungeniert werden Geschäftsmänner, Skater, Passanten betrachtet und ein paar Schritte lang verfolgt. „Gender ist nichts anderes als eine wiederholte Serie von Gesten.“, so Torr.
Metamorphosen
Die Motivation, für einen kleinen Zeitraum zum Mann zu werden, ist bei den Frauen durchaus unterschiedlich: Das Spektum reicht vom bloßen Spiel bis hin zum Wunsch „die Windstille zu spüren, in der sich Männer aufhalten können“ , und ebenso verschieden sind auch die Männerrollen oder Personae, die sich die Frauen aussuchen.
Da trifft der Hip Hop-Macho auf den Klimaforscher, der schwule Israeli auf den afrikanischen Selfmademan. In dieser Auswahl spiegeln sich auch die jeweiligen Frauenbilder der Teilnehmerinnen. So verkörpert beispielsweise eine Schönheitskönigin den frauenfeindlichen „Checker“, der von Frauen nur als den sexy „Bunnys“ oder den hässlichen „Schabracken“ spricht und natürlich ein Striplokal besucht. Hinter dem „Politikberater Christian“ verbirgt sich dagegen eine Mitarbeiterin Claudia Roths. Durchbrochen wird die Versuchsanordnung, die dem Film zugrunde liegt, durch biografische Episoden der Künstlerin Torr und Ausschnitten aus vergangenen Performances. Warum jedoch Ausschnitte einer Italienreise mit ihrer Tochter gezeigt werden, bleibt rätselhaft.
Lektionen
Um zum Mann zu werden, müssen einige Grundregeln beachtet werden, vor allem: nicht lächeln, nicht ständig nicken, Raum einnehmen. Nach Torr ist die „Idee des Besitzes […] ein integraler Part der männlichen Identität.“ Ganz unweigerlich hinterfragt man seine eigenen Verhaltensmuster und schaut mit kritischerem Blick auf sich selbst und andere. So fällt die Bilanz der teilnehmenden Frauen auch durchweg positiv aus. Sie werten es als ein Ausbruch aus dem limitierten Verhalten, das von Frauen erwartet wird. Neben Amüsantem wie dem gemeinsamen Penis-Basteln sind es vor allem die reflexiven Passagen, die im Gedächtnis bleiben. Wenn einige der Teilnehmerinnen über ihre Gewalterfahrungen mit Männern sprechen, ihr Singleleben mit vermeintlich mangelnder Schönheit begründen oder ihren begrenzten Handlungsspielraum im Beruf und im Alltag bedauern, dann zeichnet der Film die Tragik weiblicher Lebensläufe auf und führt den Zuschauer*innen die aktuelle Ungleichheit der Geschlechter in unserer Gesellschaft vor Augen. „Gender is performative.“ konstatiert die berühmte Philosophin Judith Butler. Diane Torrs Engagement zeigt uns dies exemplarisch auf; sie hat unseren Blick für die Wirkmächtigkeit von Geschlechterstereotypen geschärft.