Auf einer Landkarte verschmelzen Wissen und Vorstellungen zu einem Bild. Wie sehr sich unsere Überzeugungen darin spiegeln, zeigen schon herkömmliche Weltkarten auf: Das kleine Europa wird zum Nabel der Welt. Die Stimmen der LGBTTIQ*-Community aus dem „globalen Süden“, ihre Erzählungen, ihre Vorstellungen von Liebe und Freiheit finden in Europa nach wie vor zu wenig Gehör. Im Fokus der internationalen Berichterstattung stehen vor allem die juristische Verfolgung und die gesellschaftliche Ächtung Homosexueller in diesen Ländern. Oft genug fehlen die Zwischentöne, es fehlt der Blick auf die komplexen Zusammenhänge von Kultur, Geschichte und Politik. In den aktuellen Literaturen Afrikas, Asiens und Südamerikas ist Homosexualität jedenfalls kein Tabuthema mehr.
Auch die Texte der nigerianisch-amerikanischen Autorin Chinelo Okparanta erzählen vom Begehren und der Liebe jenseits der heterosexuellen Norm. Mit ihrem ersten Roman „Unter den Udala Bäumen“ möchte sie „der marginalisierten LGBTQ-Community Nigerias eine Stimme und einen Platz in der Geschichte unserer Nation geben“. Trotz der Emigration Okparantas in die USA erfordert die literarische Bearbeitung dieses Stoffes Mut. So berichtete sie kurz nach der Erstveröffentlichung des Buches 2015 dem Online-Magazin Electric Literature von „halb ernstgemeinten“ Todesdrohungen auf Social Media-Plattformen.
Das geteilte Land
Einer sehr realen Todesgefahr ist die Icherzählerin Ijeoma, ein junges Mädchen aus der Igbo-Ethnie, im Roman ausgesetzt. Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen, zwischen Religionen, zwischen dem Norden und dem Süden Nigerias münden in einen blutigen Kampf um die Region Biafra, in der sie mit ihrer Familie lebt. Mitten durch das Elternhaus in Ojoto tobt der Bürgerkrieg: Während eines Bombardements weigert ihr Vater sich, Schutz zu suchen. Sein Körper, sein Eigenheim, seine Heimat bleiben zerbrochen zurück. Für Ijeoma ist es der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Ihre Mutter ist durch den Tod des Ehemannes so traumatisiert, dass sie sich nicht mehr um ihre Tochter kümmern kann und sie zu einem kinderlosen Ehepaar in die Nachbarstadt Nnewi schickt. Dort muss sie zwar in einem alten Schuppen im Garten leben und den Haushalt führen, aber sie darf immerhin zur Schule gehen.
Geheime Orte
Unter einem Udala-Baum begegnet sie kurz darauf einem verwahrlosten Mädchen, das als zweite unbezahlte Haushaltshilfe bei ihren „Gasteltern“ unterkommt. Amina ist eine muslimische Hausa und stammt aus dem Norden des Landes – eine Kriegswaise ohne Schulbildung und Hoffnung. Dem allgegenwärtigen Hass zum Trotz verlieben sich die beiden Jugendlichen ineinander, entdecken gemeinsam die Lust und werden prompt beim Sex erwischt.
Während Amina weiterhin bei dem Ehepaar wohnen bleibt, wird Ijeoma von ihrer Mutter abgeholt und religiösen „Lektionen“ unterzogen. „Es ist ein Gräuel!“, so stehe es schon in der Bibel, betont die Mutter und bemüht sich erfolglos, ihre Tochter mithilfe von alttestamentarischen Geschichten von ihrem homosexuellen Begehren zu heilen. Auch wenn Ijeoma ihre Beziehung mit Amina danach wieder aufnimmt, ist sie nicht von Dauer: Ihre Geliebte heiratet einen Jungen aus ihrer Ethnie und zieht mit ihm in der Norden Nigerias. Mit dem Ende des Krieges endet auch ihre Schulausbildung. Ijeoma lernt die junge lesbische Lehrerin Ndidi kennen und begleitet sie zu queeren Partys – ein hoch riskantes Unterfangen in einem homophoben Land wie Nigeria. Als die Treffen entdeckt werden, entrinnen sie nur knapp dem Tod und werden Zeuginnen eines brutalen Mordes an einer befreundeten Lesbe. Unter dem Eindruck dieses furchtbaren Ereignisses heiratet sie ihren Jugendfreund Chibundu und bekommt eine Tochter mit ihm. Doch bald ahnt man, dass diese Beziehung keinen Bestand haben kann.
Die Last der Traditionen
Von Udala-Bäumen träumt sie am letzten Tag ihres Ehelebens, ein Alptraum, in dem ihre Tochter Chidinma erhängt an einem Ast baumelt. Einer Igbo-Legende nach verheißen Udala-Bäume Fruchtbarkeit; in dieser Umdeutung der Natursymbolik zeigt sich Ijeomas endgültige Abkehr vom traditionellen Wertesystem. „Für mich war das, was die Legende versprach, ein wenig so, als würde man sich etwas wünschen: Ob der Wunsch in Erfüllung ging, war dem Zufall überlassen.“
Auch in der Ablehnung einer wortgetreuen Bibelexegese wird ihre Eigenständigkeit sichtbar. Sie veranschaulicht ihre Entwicklung von einem verlassenen Schulmädchen zu einer Frau, die ihre Homosexualität im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten auslebt. Nach dem Scheitern ihrer Ehe kehrt sie mit ihrer Tochter zur Mutter und zu Ndidi zurück. Das Buch endet versöhnlich: 30 Jahre später blickt Ijeoma milde auf die Zeit ihrer Jugend- und frühen Erwachsenenjahre zurück und hofft auf die tolerantere Generation ihrer Tochter.
Von Hass und Liebe
Auf den ersten Blick erscheint Okparantas Sprache einfach, mit kurzen Sätzen und zahlreiche Passagen in wörtlicher Rede. Doch die vielen nigerianischen Sprichwörter und kurzen Märchen, Bibelzitate und Naturbeobachtungen verleihen dem Text Poesie. Das Spannungsfeld von mündlichen Erzähltraditionen und streng ausgelegtem Christentum hat auch die Autorin geprägt. „I grew up on Igbo folktales. And, like many Nigerians, I grew up in a very religious atmosphere: I was raised as a Jehovah’s Witness, which meant that I attended Bible studies three to four times a week“, schilderte Okparanta im Interview mit Electric Literature. Ungeachtet ihrer literarischen Qualität transportieren beide Textformen ein Menschenbild, dass Homosexuellen keinen Raum lässt. Auch heute noch drohen (vermeintlich) homosexuellen Menschen in Nigeria hohe Haftstrafen bis hin zu Steinigungen, je nach Bundesstaat und seiner spezifischen Gesetzgebung. Angesichts dieser Gefährdungslage erscheinen kulturelle Werke, die die Lebensgeschichten homosexueller Menschen abbilden, um so bedeutsamer. Denn sie dienen nicht nur der Selbstversicherung homosexueller Frauen* und Männer* in Nigeria, sondern widerlegen auch die Behauptung, Homosexualität sei eine „Krankheit“ des Westens. So verurteilte Reverend Nicholas Okoh, der Primas der anglikanischen Kirche Nigerias, 2018 Homosexualität als gesellschaftliches „Gift“, das die Wurzeln des nigerianischen Gemeinschaftslebens zerstöre.
Chinelo Okparantas Roman hingegen erzählt nicht nur von den Gräben, die sich zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien, Religionen und sexueller Orientierungen auftun. Sie spricht auch von der Liebe, von Solidarität und Mut. „Möge das Leben sein, was es ist“, spricht Ijeomas Mutter zum Schluss – ein Geschenk des Mitgefühls.
„Unter den Udala Bäumen“ wurde von Sonja Finck und Maria Hummitzsch übersetzt .