Am Anfang war der Bluff. Homocore/Queercore sei „eine Farce, die real wurde“, klärt die Dokumentation „Queercore: How to Punk a Revolution“ des Regisseurs Yony Leyser gleich zu Beginn auf. Bruce LaBruce und G.B. Jones aus Toronto täuschten anfangs mit Zines und selbstgedrehten Filmen die Existenz einer Subkultur vor, die es noch gar nicht gab. Parallel dazu entwickelte sich in Los Angeles eine queere Punk-Szene um die Punk-Dragqueen Vaginal Davis. Quasi im Alleingang schuf so eine kleine Gruppe queerer Menschen ganz ungewollt eine Bewegung, deren kultureller Einfluss noch heute offenkundig ist: Künstler*innen wie Peaches oder Beth Ditto wären ohne sie undenkbar.
Politiken des Widerstandes
Soziale Ausgrenzung war in den 1980er Jahren nicht nur ein Phänomen der heteronormativen Gesellschaft, sondern wurde auch von einigen Schwulen und Lesben weitergetragen. Dies war ein Gründungsmoment vieler queerer Punkbands, wie der Film zeigt: Viele der Pionier*innen des queeren Punks rebellierten auch gegen eine bourgeoise und konformistische Schwulen- und Lesbenszene, indem sie mit deren Habitus radikal brachen.
War die Punk-Szene in ihrer ersten Hochphase Ende der 1970er/Anfang der 1980er noch durchlässig für diverse Lebensentwürfe und Identitäten, waren queere Menschen später zunehmend ungern gesehen. Ab Mitte der 1980er Jahre bestimmte der heterosexuelle Macho-Punk im Moshpit das Bild der Subkultur. Der hypermaskuline und gewalttätige Mann – das entsprach überhaupt nicht den Wurzeln dieser Jugendkultur. Denn der Begriff „Punk“ ist unter anderem ein Slangwort aus dem Gefängniskontext „für Jungen, die ihr Gesäß an alte Knastbrüder verkaufen“, wie in einem SPIEGEL-Artikel von 1978 nachzulesen ist.
Stöckelschuhe und Baseballschläger
Ein riesiger Stöckelschuh, der ein Polizeiauto zertritt- der Film „Queercore“ zeigt Bilder dieser bekannten Aktion, die1989 zur Gay Pride Parade in San Francisco stattfand. „No Apologies, no Assimilation ever“ fasste ein dort gezeigtes Transparent die Haltung zahlreicher queerer Punks zusammen. Die Bejahung der radikalen Aspekte lesbischer und schwuler Identität war weniger ein explizit politischer als ein kulturell-ästhetischer Protest. Und so kamen viele der Protagonist*innen vor allem aus anarchistischen Zusammenhängen. Ihre Opposition war umfassender und genereller als die der aktivistischen Homosexuellen, die den Staat mit seinen Regeln in ihrem Sinne verändern wollten. In ihrer Show „Bitch! Dyke! Faghag! Whore!“ erinnerte die Künstlerin Penny Arcade auch an die Gründungsmomente der lesbisch-schwulen Bewegung, an die „Verlierer, Freaks und Perversen“, die sich öffentlich zeigten und Widerstand gegen Polizeigewalt leisteten. So zeichnen die in der Dokumentation benannten Positionen die Konflikte nach, die bis heute die Diskussionen um Queerness und Homosexualität bestimmen. An der von vielen als zu engstirnig empfundenen Identitätspolitik und einem oft als diffus bewerteten Begriff von Queerness scheiden sich nach wie vor die Geister.
Macho-Frauen*
„Wir waren keine Lesben, sondern Dykes!“, konstatiert Lynn Breedlove, Gründungsmitglied und Leadsänger*in der legendären Band Tribe 8 in „Queercore“. Im Mittelpunkt zahlreicher Konzerte stand der Körper der Musiker*innen, die Vielfalt ihres Begehrens und eine radikale Ablehnung normierter Genderperformances.
Gegen die kapitalistische Verwertbarkeit weiblich gelesener Körper setzten die queeren Punkmusiker*innen auf die Strategie subversiver öffentlicher Nacktheit. Damit zelebrierte die queere Punkszene in den 1980er Jahren einen Traditionsbruch, eine Abgrenzung von der politischen Lesben- und Schwulenbewegung. Trotz aller Ähnlichkeit mit der feministischen Riot Grrrl-Bewegung blieb Queercore in den Medien zunächst ein Randphänomen; dem popkulturellen Mainstream der Zeit waren queere Punk-Musik und -Performances kaum zu vermarkten. Daran änderten auch die Solidaritätsbekundungen von Kurt Cobain nicht viel.
Mainstream?
Erst die Nullerjahre verhalfen dem Genre zu mehr Popularität. Mit Elecroclash stand (und steht) eine beliebte und erfolgreiche Musikrichtung dezidiert in der Tradition des queeren Punk. Als jedoch der Luxusmode-Konzern Gucci 2017 eine Schuh-Kollektion mit „Queercore“ betitelte, hagelte es Vorwürfe der kulturellen Aneigung.“Queercore didn’t ‘lend it’s name’ to Gucci for their shoes„, kritisierte G. B. Jones im Out-Magazine. Trotzdem profitierten einige Künstler*innen durchaus von dem kommerziellen „Ausverkauf“, z.B. Bruce LaBruce, der mittlerweile auch Spielfilme dreht. Dass die Dokumentation diesen Diskurs ausblendet, ist ein großes Manko.
Geschichte(n)
Von den Regisseur*innen Bruce LaBruce und G. B. Jones über Musiker*innen wie Peaches, Jody Bleyle oder Lynn Breedlove: Die Vielzahl der Stimmen zeichnet diesen Film aus. Konzertclips, Filmausschnitte und Abbildungen aus mehreren Zines vervollständigen das Porträt einer Szene, deren Kreativität und Experimentierlust heute noch wegweisend sind. Und doch fällt die Bilanz vieler Protagonist*innen deutlich optimistischer aus als beispielsweise in der improvisierten Independent-Dokumentation „Step Up And Be Vocal“ von 2001. Denn dort ist einigen (ehemaligen) Musiker*innen die Enttäuschung über die Streitigkeiten in der Szene und die aus ihrer Sicht fehlende musikalische wie konzeptuelle Weiterentwicklung deutlich anzumerken. „Was motiviert dich? Einsamkeit und Wut. […] Es gibt da viel Energie, aber etwas daran stimmt nicht. Du darfst dabei nicht stehen bleiben“ betont etwa Jody Bleyle.
„Queercore“ ist nicht nur eine sehenswerte Dokumentation zu einem viel zu wenig beachteten Bereich der Musik und der Kunst. Sie ist zudem Ausdruck einer zunehmenden Historisierung queerer Kultur. Was als Bluff begann, ist längst zu einer großen Erzählung geworden.