Nan Goldin in Berlin: Sex, Stolz und Schmerz

Für die Fotografin Nan Goldin ist Berlin ein ganz besonderer Ort. Denn hier habe sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht, erzählte sie in einem SPIEGEL-Interview 2010. Ihr bekanntestes Werk, die „Ballad of sexual dependency“, entstand in Teilen im Berlin der 1980er, in dieser von Mauern versperrten Stadt, in der die Subkulturen aufblühten wie nirgends sonst in der Bundesrepublik. Die Ballade, ein großes Konvolut an Fotografien, die ursprünglich als Diashow konzipiert wurden, zeigt ihre queere Wahlfamilie, die Drag Queens, trans Personen, ihre Partner und Partner*innen, sie zeigt Sex, Nähe, Schönheit und Verlust, Stolz und Schmerz.

Nah dran

Auch in Nan Goldins aktueller Berliner Ausstellung in der Akademie der Künste sind diese Leitmotive ihres Schaffens überaus präsent. Ob das triste Selbstporträt „Nan und Brian in Bed“, eine Ikone autobiografischer Fotografie oder „Jimmy Paulette and Tabboo! in the Bathroom“, das die zarte Geste der Verbundenheit einer Drag Queen dokumentiert- der intime Moment zählt für Goldin. Und so verwundert es nicht, dass viele der gezeigten Bilder in der Bildschärfe variieren, dass Details verwischen und sich die Linien in flirrender Weichheit verlieren. Doch diese der Nah- und auch der Fernsicht entliehene Bildstrategie beschränkt sich keineswegs nur auf Porträts, sondern ist ein von Goldin häufig genutztes künstlerisches Verfahren. In „Blue Hills“ löst sich die Landschaft in dunstige Farbflächen auf, während in „Full moon over Bois de Vincennes“ laublose Bäume zu erzittern scheinen von der explosiven Helligkeit des Mondes. Neben mehreren dieser expressionistischen Arbeiten illustriert eine Zusammenstellung mehrfachbelichteter Fotografie ein weiters Verfahren, dessen sich die Künstlerin bedient. Da überlappen sich Körper und Gesichter in merkwürdigen Doppelungen, als wollten sie sich miteinander verkeilen. Besonders anrührend in „Double Exposure Grid #2“ ist jedoch ein stilles, beinahe unbewegtes Bild: Ein junger Mensch, dessen Oberkörper einen Grabstein durchscheinen lässt und auf dessen Hand vermeintlich eine der Grabfiguren ruht.

Queere Fotografie

Goldins Gespür für Metaphorik zeigen zahlreiche weitere Bilder der Schau. So lotet sie intensiv das Motiv des Spiegels aus, fotografiert selbstvergessene, intime, aber auch narzisstische Momente. Nur möglich wurde diese Zurschaustellung des Privaten durch die enge Verbindung, die sie mit ihren Protagonist*innen pflegt. Sie selbst ist Teil ihres Werkes, porträtiert sich beim Sex, als Opfer von Beziehungsgewalt oder in Feierlaune. Die vielen popkulturellen Bildzitate führt sie auf ihren queeren Entstehungskontext zurück, wie bei „Roommate under Marilyn“, auf dem eine trans Person unter dem berühmten „Marilyn Diptychs“ von Andy Warhol posiert, oder „C as Madonna”, indem die berühmte Pose der Sängerin von einer Drag Queen imitiert wird. Andere Arbeiten wie „Thora at my vanity” erinnern an klassische Akte; überhaupt hat ihre Lichtführung der kontrastreichen Modulation von Helligkeit und Schatten barocke Anleihen. Viele von Goldins Arbeiten changieren zwischen Schnappschuss und Pose, zwischen heftiger Bewegung und Gelassenheit. Sie habe Tabus gebrochen, Grenzen überwunden und sich für die zunehmende Anerkennung der LGBTQ-Szene eingesetzt, heißt es im Pressetext zur Verleihung des Käthe Kollwitz-Preises. Mit der Ausstellung würdigt die Akademie der Künste eine Fotografin, deren Werk zugleich intim ist und über sich hinausweist. Nan Goldin ist längst zu einer Ikone queerer Fotografie geworden.